Tips: Videospiele für Kinder und Jugendliche

So sieht es aus, wenn die Videospiele-Industrie Promo-Fotos macht: Drei Jungs müssen "Skylanders" spielen und sehr begeistert tun. Ganz so peinlich, wie dieses Foto nahelegt, ist das Spiel gar nicht.

Das Beste für den kleine Gamer

Videospiele für Kinder gehören zurzeit zu den erfolgreichsten. Leider gibt es in diesem Segment Großartiges neben großem Unsinn. Ein paar Tips zu Weihnachten (2012) – eine Übersicht  für alle Spieler zwischen 4 und etwa 12.

Da können kulturkonservative Mahner sagen, was sie wollen: Videospiele stehen bei Kindern nun einmal ganz oben auf dem Wunschzettel. Einige bieten kluge Unterhaltung, andere sind einfach nur dumm. Hier ein paar Tipps, welche Titel gut sind – und von welchen man besser die Finger lässt.

Das wichtigste Kinderspiel des Jahres ist gleichzeitig auch das nervigste, zumindest für Eltern. “Skylanders“ ist eine Mischung aus Video-Action und Figurensammelei. Die Spieler stellt die rund sieben Zentimeter hohen Plastikmonstern auf ein Podest, das mit der Konsole verbunden ist und steuert dann ihr Abbild durch die digitale Welt.

Doch die fällt recht banal aus: Kleine fliegende Inseln, eine Art Mittelerde im Comic-Stil, werden von Monstern bedroht. Denn die “Balance, die es allen Wesen erlaubt, im Einklang zu leben”, ist gestört – so heißt es gleich am Anfang. Das war’s dann auch mit der pädagogisch wertvollen Botschaft. Der Rest ist Prügeln. Man schubst, boxt und knufft andere Wesen aus dem Weg. Der zweite, seit Oktober erhältliche Teil “Skylanders Giants” wiederholt das Muster ohne neue Ideen. Die Spielmechanik ist ohnehin Klassikern wie “Mario Galaxy” entliehen.

Dennoch ist das Spiel ein gerissenes Marketingkunstwerk. Die derzeit insgesamt 80 verschiedenen Figuren werden auf der ganzen Welt von Kindern getauscht und gesammelt. Nach einer Schätzung der Zeitschrift “Business Week” sind knapp 70 Millionen verkauft. Jedes Plastikmonster enthält einen sogenannten RFID-Chip, der die persönlichen Eigenschaften der Figur in das Spiel überträgt.

Das alles funktioniert prächtig. So können Kinder auch nur mit den Figuren spielen. Man kann mit ihnen sogar baden, ohne dass sie leiden. Auf die eine oder andere Art begeistert das Spiel also jeden zwischen drei und zehn Jahren. Und so ist “Skylanders” einer der größten Erfolge des Jahres, war in der ersten Jahreshälfte das Nummer-eins-Game weltweit.

Das hat viel ausgelöst. Die Spielebranche entdeckt gerade, dass das sehr junge Publikum oft am interessantesten ist. Etliche aufwendige Spiele für Kinder sind pünktlich zum Weihnachtsgeschäft erschienen.

Manche davon wirken ein wenig irre. Das “Wonderbook” dürfte davon das experimentellste sein. Der Spieler muss sich vor die Move-Kamera der Playstation setzen und ein buchartiges Objekt aufklappen. Der Bildschirm wird dann zum Spiegel, in dem man sich mit dem zum Leben erwachten Buch sieht. Aus den Seiten steigen Aufgaben und Szenen auf. Leider gibt es dafür bisher nur das lahme “Buch der Zaubersprüche“. Es hat die Lizenz, Begriffe aus der Harry-Potter-Welt zu benutzen, sieht zwei Minuten lang spektakulär aus – und hat die erzählerische Kraft eines lieblos gemachten Point-and-Click-Adventures.

Die derzeitige Technik-Mode ist damit umrissen: Besonders bei Kinderspielen geht es um neue Geräte, die einen einfachen und natürlichen Zugang bieten sollen. Das gilt auch für Nintendos neue Konsole WiiU. Das Besondere hier: Der Controller der Konsole besitzt einen eigenen Bildschirm. Das schönste Kinderspiel dafür ist “New Super Mario Bros. U”. Zwei können zusammen spielen und sich gegenseitig helfen. Etwa so: Einer lässt Mario auf dem großen Schirm über einen Abgrund rennen, der andere setzt auf dem kleine Touchscreen des Wii-U-Controllers schnell fliegende Felsen in die Luft, damit Mario immer neu abspringen kann.

So spektakulär das ist – einige Spiele brauchen keinen großen Karton, in dem ein obskures Peripheriegerät steckt, und überzeugen trotzdem. Warner etwa erzählt seit ein paar Jahren die großen Epen der Popkultur in einer animierten Lego-Welt nach. Indiana Jones, Star Wars und Batman werden so zu dem Kinderkram, der sie insgeheim immer schon sind. Nun ist “Der Herr der Ringe” zum digitalen Lego geworden – und erzählt Tolkien erfrischend neu. Da fliegt Legolas (!) auch mal plötzlich eine Banane an den Kopf. Ein humorvolles Actionspiel – in der oft bierernsten Games-Welt ein Segen.

Stehenlassen sollte man dagegen das Disney-Spiel “Epic Mickey 2″ - zu verwirrend und hyperkomplex. Noch elender scheitern die Spiele zu “Ralph reicht’s”. Der hübsche Animationsfilm hat Retrogames zum Thema, daraus hätte man viel machen können. Die Macher haben sich für ein sehr durchschnittliches Jump-and-Run entschieden.

Wer Empfehlungen sucht, kann sich auch die wenigen Auszeichnungen für Kinderspiele ansehen. Das führt derzeit wieder zu dem Tipp “Es war einmal ein Monster”. Das ist zwar schon ein Jahr alt, hat aber kürzlich beim “Tommi”, dem wichtigsten deutschen Preis für Kinder-Videospiele, zu Recht einen Sonderpreis erhalten. Mit dem Kinect-Sensor der Xbox, also frei im Raum, durch Wedeln, Hüpfen und andere Bewegungen, steuert man Wesen aus der Sesamstraße durch ein paar schöne Level, zu den Stimmen der Originalsprecher. Am Ende gibt es eine große Party bei Grobi.

Das ist das wohl einzige Spiel, das man auch mit kleinen Kindern wirklich spielen mag. Denn die häufig anzutreffende Altersfreigabe “ab null” ist natürlich nicht ernst zu nehmen. Ganz kleine Kinder brauchen keine Games. Selbst größere können auf sie gut verzichten, und auch dies Jahr ist ein Fußball wieder ein sehr brauchbares Geschenk. Andererseits gibt es aber keinen Grund, Spiele zu verteufeln oder gar dem kulturpessimistischen Psychiater Manfred Spitzer zu glauben, der ein gut gehendes Geschäft daraus gemacht hat, alles Digitale abzulehnen. Videospiele wecken Neugier und Enthusiasmus bei Kindern. Dinge, die wir doch angeblich so oft vermissen bei der Jugend von heute.

Wer darauf besteht, dass Spielen einen Nutzen haben sollte, dem sei zu “Rocksmith” geraten. Musikspiele sind eigentlich ein Trend von vorgestern – “Guitar Hero” erreichte vor fünf Jahren den Zenit seiner enormen Popularität. Man musste auf einer Plastikgitarre im richtigen Rhythmus einen von vier Köpfen drücken, das hatte mit Musizieren soviel zu tun wie Peer Steinbrück mit dem Sozialismus. Bei “Rocksmith” aber schließt man erstmals einfach eine echte E-Gitarre an Konsole oder PC an.

Die Optik des Spiels – bunte Quasi-Noten kommen auf den Spieler zu, man muss sie im richtigen Moment anschlagen – ist zwar schamlos von “Guitar Hero” geklaut. Dass man aber ein echtes Instrument lernen kann, ist neu und funktioniert erstaunlich gut. Die Spielkonsole ersetzt keinen echten Gitarrenunterricht, kommt ihm aber nah – und sie korrigiert auch noch um ein Uhr morgens, wenn man nur dann Zeit zum Üben hat.

Yager: Erst der DDR-Klub, dann die ganze Welt

Porträt der Berliner Games-Entwickler von “Yager Design”

 

Das Büro von "Yager" in Berlin-Kreuzberg

 

Die wollen nur spielen

Fünf Freunde auf dem Weg nach oben: Sie trafen sich Mitte der 80er im Computerklub der DDR. Sie blieben zusammen. Nun haben sie mit “Spec Ops: The Line” eins der teuersten und interessantesten Videospiele des Jahres 2012 herausgebracht

Timo Ullmann schmerzt die Schulter. Er hat wieder ein paar Sprünge gemacht, auf den Judomatten. Ullmann ist der Chef der Berliner Videospielefirma „Yager“. Über seinem Berliner Loftbüro, wo 100 Menschen für ihn programmieren, zeichnen, Pistolensounds basteln und Energydrinks kippen – oben über dem eigentlichen Büro gibt es ein Zimmer, das mit Matten ausgelegt ist. Dort haben sie Erschießungen gespielt, für ihr Spiel „Spec Ops The Line“. Sie haben für die Kamera vorgemacht, was die Spielfiguren tun. „Das war emotional ziemlich hart“, sagt Timo Ullmann. „Zuerst fanden wir uns lustig, und nach und nach blieb allen das Lachen im Halse stecken.“

Besser könnte man ihr Spiel nicht beschreiben. Die Deutschen haben eines der größten und wichtigsten Spiele dieses Jahres geschaffen. Rund 40 Millionen Dollar soll es gekostet haben – soviel wie ein mittelgroßer Hollywoodfilm und mehr als jeder aktuelle deutsche. Es fängt als lässiges Kriegsspiel an, und zeigt dann mehr und mehr den Schrecken des Tötens. Sehr ungewöhnlich für Videospiele. „Wie wollten dem üblichen Hurra-Patriotismus in der Spieleszene etwas entgegensetzen“, erklärt Ullmann.

„Wie zum Teufel sind sie damit durchgekommen?“, fragte ein amerikanisches Spielemagazin – um am Ende der Besprechung „10 von 10 Punkten“ zu geben. Wer „Spec Ops The Line“ an der Playstation spielt, zieht frohen Mutes in die Schlacht, gerät in Hinterhalte, verliert erst seine Selbstsicherheit, dann seine Kameraden und wird plötzlich versehentlich selbst zum Kriegsverbrecher. Das dürfte das erste Antikriegsspiel sein. Was Filme wie „Apocalypse Now“ und Romane wie „Herz der Finsternis“ leisten, das kann nun auch ein Spiel. Es erntet gerade Lob aus der ganzen Welt.

Begonnen hat diese überraschende Erfolgsgeschichte vor 25 Jahren. Damals haben kamen Ullmann und die Männer, mit denen er die Firma „Yager“  leitet, zusammen– als Teenager in der DDR. Uwe Bennecke, Roman Golka, Philipp Schellbach, Timo Ullmann, alle um 1972 geboren und alle heute knapp vierzig, trafen sich als Teenies im „Haus der jungen Talente“. Da ließ die DDR ihren ersten und einzigen Computerclub laufen. Es gab schon ein wenig „Laissez-faire“ in der strebenden Diktatur, erinnert Ullmann sich. „Die wollten wohl technisch Anschluss finden.“ Also wurde es geduldet, dass viele auch West-Computer mitbrachten – irgendein Verwandter fand sich oft, der einen C-64 über die Grenze schmuggelte. Computerfreaks waren noch seltsame, harmlose Außenseiter. Jetzt, im Spätsommer 2012, sitzen die fünf Freunde in einem Konferenzraum ihrer eigenen Firma. Auf schwarzen Sofas, vor einem riesigen Fernseher, an dem Playstation, Xbox und alte Spielkonsolen hängen. Was für viele Männer ein Traum wäre, ein ideales Wohnzimmer, hier ist es Arbeit.

Sie denken gern an die 80er. Wie dann Mathias Wiese dazukam, der fünfte im Bunde. Er ist studierter Bildhauer, hatte einen Platz an der Kunsthochschule Weißensee ergattert. Aber eigentlich interessierten ihn nur Computerspiele. Und Philipp, der war eigentlich beim „Omnibus“. Alle lachen, wenn er das erzählt. „Omnibus“, das war der berühmteste Jungenchor der DDR, so etwas wie die Wiener Sängerknaben des Ostens. Bloß kam Schellbach irgendwann in den Stimmbruch und dann war alles vorbei. Er suchte ein neues Hobby und bekam einen HC-85, den Heimcomputer der DDR. Später einen C-64 vom Westonkel. Vom Commodore Amiga, dem mit den sechzehn Millionen Farben, konnte man nur träumen – 10.000 Ostmark kostete er, soviel wie ein kleines Haus. Uwe Benecke haben sie im Zug nach Leipzig kennengelernt, zur Frühjahrsmesse, da gab es immer einen Commodore-Stand. „Wir kamen mit einem C-64-Aufkleber zurück“, sagt Schellbach. „Und wir waren so stolz darauf.“ In Berlin traf man sich immer wieder. Telefone gab es nicht. Aber einer ging beim anderen vorbei und klingelte.

Wenn sie heute aus ihrer Fabriketage treten, stehen sie direkt an der Spree. Man blickt auf die O2-Arena und die East Side Gallery, den kunstvoll besprayten Rest der Berliner Mauer. Daneben auf die Oberbaumbrücke, über die nachts das Partypublikum zieht und auf der immer zwei bis drei Bands stehen. Hier am Schlesischen Tor in Kreuzberg dürfte derzeit das Zentrum der Szene Deutschlands sein. Hier sitzt nun auch die aufregendste deutsche Games-Firma – nur noch „Crytek“ aus Frankfurt produziert auch so große und aufwendige Spiele.

Als vor 15 Jahren die Firmengeschichte begann, gab es nur die fünf Männer und eine Idee für ein Science-Fiction-Videospiel. Dieser Vorgänger ihres heutigen Spiels hieß „Yager“, wie das Unternehmen, und erschien 2003. Investoren empfingen sie vorher in der Küche von Roman, dem großen Programmier unter ihnen. „Meine Bude sah am besten aus. Die hatte Laminat“, erinnert er sich. Das war im Friedrichshain, in einem echten Berliner Zimmer, diesem seltsamen Wurmfortsatz der ostdeutschen Altbauen, zum Hof hin, mit nur einem kleinen Fensterchen. Die Szenen aus dem Videospiel, das es bisher ja nur in Köpfen der fünf gab, hatte Matthias Wiese gemalt – in Öl, auf große Leinwände. Damals gab es keine Computerspielemesse, keine Games-Entwickler-Tagung, noch kein Millionenpublikum. Auf der CeBit Home rannten sie umher, erzählten jedem von ihrer Idee, hatten sich in schief sitzende Anzüge gezwängt.

Die Hartnäckigkeit blieb ein Markenzeichen dieser Gang of Five. Um 2000 haben sie alle eine Woche im Büro geschlafen, CDs gebrannt, Konzepte ausgedruckt. Das Taxi zur Unterhaltungsmesse in London wartete unten, aber es mussten noch ein paar Rohlinge mit der Vorab-Version ihres Spiel gebrannt werden. Auch nach L.A., wo es inzwischen eine eigene Messe für Spiele gab, flogen sie immer wieder. Irgendwann flüsterte man sich dort an der West Coast zu: „Da sind die Exoten aus Europa wieder“. Das war ein Kompliment. Die Amerikaner, unsere großen Brüder auch in diesem Zweig der Unterhaltungsindustrie, hatten sie zur Kenntnis genommen. Darauf ist Ullmann heute noch stolz.

Kurz vor der Jahrtausendwende bezog die Firma ihr erstes kleines Büro. Der Vermieter kapierte nicht, was das junge Unternehmen tut und fragte: „Spielt Ihr die ganze Zeit?“ Nein. Man arbeitete. Hart. Ab und zu legte sich jemand aufs Dach und ruhte sich aus. Und fotografierte den Himmel. „Da gab es immer so schöne Wolken“, findet Uwe. „Die Himmel aus dem Sci-Fi-Videospiel Yager, unserem ersten, stammen alle aus der Gubener Straße in Berlin-Friedrichshain.“

Fünf Männer, fünf Ideen, fünf Charaktere. Aber wie bei jeder guten Bande sind die Aufgaben klug verteilt, vielleicht funktioniert deswegen alles so prächtig. Timo Ullmann ist der Kopf der fünf, der smarte Denker, der nach Außen wirkt und Gamer wie Geschäftleute gleichermaßen überzeugt. Sein Kompagnon Philipp Schellbach leitet mit ihm die Firma, als Direktor der Entwicklung. Matthias Wiese ist für die Visionen zuständig. Er dachte sich das große Charakteristikum des Spiels „Spec Ops“ aus: Die Sandstürme! Wie ein Symbol für die Verwirrung des Soldaten trüben sie alle die Szenen mal rötlich-düster, mal gefährlich-weiß ein. Dafür schickte Wiese extra Leute in die Wüste und ließ dann ein aufwändiges Grafik-Tool programmieren. Uwe Beneke entwickelt und erdenkt ständig neues für die Zukunft – er hat eine Handvoll neuer Spielideen in der Schublade. Und Roman Golka ist heute Chef der IT und Sicherheit, er kann mit Technik und mit Zahlen besonders gut.

Apropos Zahlen: Zwei Milliarden Euro haben die Deutschen 2011 für Spiele ausgegeben – mehr als für Filme oder Musik. 72 Millionen Spiele wurden verkauft. Und nicht nur an die Teenies. Der Durchschnittsspieler ist 32, vier von zehn Prozent sind Frauen. Die erfolgreichsten Videospiele der letzten Jahre waren Kriegsspiele – sie sind derzeit das angesagte Genre. Die ganz großen Blockbuster, „Call of Duty“ oder „Medal of Honor“, verkaufen sich millionenfach. (Call of Duty machte 2011 angeblich an einem Tag 400 Millionen Dollar Umsatz.) Aber eines ist ihnen allen gemeinsam: Sie sind verdammt unkritisch. Amerikaner killen darin böse Russen oder arabische Turbanträger. Die deutschen von Yager wollten etwas Neues finden. Und sie mussten auch, um sich dagegen zu behaupten.

„Als unser Spiel fertig war, hatten wir Angst“, gibt Ullmann zu. „Spec Ops The Line“ ist ein Schlag ins Gesicht des amerikanischen Militarismus. Die US-Flagge hängt falschherum in dem Spiel, und es beginnt gleich mit einer Coverversion von Jimi Hendrix „Star Spangled Banner“ – der Gitarrengott hatte die Hyme 1969 in einer bitteren, lärmenden Anti-Version gespielt, in Woodstock, als Protest gegen den Vietnamkrieg. „Das hätte ja auch Wut auslösen können in den USA, da kommen ein paar Ossis und werfen denen ein kriegkritisches Spiel hin“. Dann kamen die ersten Rezensionen. Und es gab viel Lob. Selbst die Kritiker, die das Spiel nicht mögen, ziehen den Hut vor dem Mut der Macher. Dann erst haben die Fünf aus Kreuzberg gefeiert. „Da konnten wir endlich glauben, es hat wirklich geklappt alles“, sagt Ullmann. Sie schmissen sie eine Party, in einer zum Club umgebauten DDR-Turnhalle, soviel Ostalgie muss sein. Es ging bis morgens.

Nun geht es natürlich gemeinsam weiter. Die Videospiel-Szene stagniert gerade ein wenig, es gibt wenig Überraschungen, man kennt alles schon. Daher warten sie auf neue Technologien. Nächstes Jahr dürften modernere Konsolen erscheinen, die Playstation4, eine neue X-Box – das wird der Spielesezen einen Schub geben. Während aber sonst alle nur auf noch feinere Grafik und vielleicht 3D warten, haben die Yager-Jungs ganz anderes im Sinn: „Die Technologie wird dann die Gefühle der Figuren zeigen können“, erklärt Philipp. „Das erlaubt ganz neue emotionale Tiefe, ganz andere Spielerlebnisse.“

So suchen sie weiter nach Spielideen, die auch Erwachsene faszinieren. Vier der fünf haben Kinder heute. Und einer, Uwe, hat den 5. Dan im Ninjutsu, der Kampfkunst der Ninja. Diese Männer sind nicht nur besessenen Computerfreaks. Sie sind auch normale Enddreißiger. Vielleicht etwas lässiger als normale Enddreißiger. Es steht ihnen gut, zu den besten Spieleentwicklern des Jahres zu gehören.

Thomas Lindemann

Der Artikel ist in ähnlicher Fassung zuerst in der Zeitschrift “Gala Men” erschienen, Oktober 2012.

Schuld und Sühne: “Spec Ops The Line”

Schuld und Sühne, digital

Ein in Berlin entwickeltes Videospiel belebt die Pazifismus-Debatte in den USA neu: Das Kriegsepos “Spec Ops” bringt dem Spieler bei, sich für die eigenen Gräueltaten zu schämen

Amerika am Ende: Ein Videospiel aus Berlin-Kreuzberg zeigt den USA, was ihr Krieg auch sein kann. Bitteres Scheitern statt Killererfolg.

Von Thomas Lindemann

Auch die Vereinigten Arabischen Emirate haben eine kleine Videospielerszene, und Emirate-Vizepräsident Scheich al-Maktoum hält in Dubai jährlich eine Games-Messe ab. Doch sollte es auch politische Gamer und Cyberpunks im Land geben, sie hätten jetzt ihren Aufreger: Das deutsche Videospiel “Spec Ops: The Line” darf in den Emiraten nicht in den Handel.

Das könnte daran liegen, dass die Stadt Dubai darin mit enormem Aufwand in Schutt und Asche gelegt wurde, von Sandstürmen und Bürgerkrieg zerstört ist und zur Kulisse für ein Epos über Schuld und Kriegsverbrechen wird. Andererseits entspinnt sich vor diesem Hintergrund eine Geschichte, die Amerika bitter scheitern lässt und den ganzen Wahnsinn eines Krieges in Nahost fühlbar machen will.

Zwei Szenen des Spiels, eine vom Anfang, eine vom Schluss, könnten unterschiedlicher kaum sein. Zu Beginn ziehen die drei Soldaten, die der Spieler steuert, scherzend in das versandete Dubai ein. Die Stadt – minutiös nachgebaut anhand von Stadtplänen und Tausender Fotos – erstrahlt in aller postapokalyptischen Ruhe in der Sonne. Dann eine Szene vom Ende: Die Bilder sind plötzlich dunkel und bedrückend, tiefrote Sandstürme blockieren die Sicht, die Soldaten schreien sich an, ihre Stimmen (fantastisch gesprochen unter anderem von “Babylon 5″-Schauspieler Bruce Boxleitner) brechen.

Die Geschichte dahinter muss klassisch Belesenen und Cineasten bekannt vorkommen: Der Spieler wird als US-Soldat in das von der Außenwelt abgeschnittene Dubai geschickt. Dort ist ein US-Oberst namens John Konrad mit seinem Regiment verschollen.

Die Rettungsaktion wird aber keine solche, sondern ein Trip in die Hölle. Denn Konrad lebt und hat in den Trümmern der Stadt eine Terrorherrschaft errichtet. Das lässt an “Herz der Finsternis” von Joseph Conrad (dessen Name sich in der Hauptfigur des Spiels wiederfindet) und an den Film “Apocalypse Now” denken. Später drängen sich Bezüge zu Filmen wie Bryan Singers “Die üblichen Verdächtigen” oder dem Psychothriller “Angel Heart” auf – zu Kinofilmen also, deren Ende eine radikale Wendung bereithält, die alles in neuem Licht erscheinen lässt.

Solch eine Wendung ins Fürchterliche ist neu in Videospielen. Militärschießspiele sind, auch wenn das nicht jeden glücklich stimmen mag, das tonangebende Genre der letzten Jahre. Mit “Call of Duty Modern Warfare 3″ etwa wurden Ende 2011 fast 800 Millionen Dollar Umsatz in fünf Tagen gemacht. Der Hersteller Activision vermeldete stolz, so erfolgreich sei noch kein Start irgendeines Kulturprodukts gewesen. Und Spiele sind Kulturprodukte. Schießspiele sind, weil ihre lineare Anlage sich dazu anbietet, oft mit aufwendigen Geschichten ausgestattet. Das Spiel “Homefront” (2011), eine Story um den Einmarsch der Nordkoreaner in Amerika, schrieb Hollywood-Autor John Milius.

Der Erzkonservative Milius, Regisseur des Kriegsfilms “Die rote Flut” mit Patrick Swayze und Charlie Sheen, passte gut zum Militärvideospiel. Denn Kriegsspiele waren bisher durch und durch affirmativ. Die US Army freut sich regelmäßig über sie und stellt gern Berater. Und wenn man bei “Call of Duty” einmal ins Jahr 1968 reisen muss, um schlafenden Vietcong-Guerillas Messer in die Hälse zu rammen und danach zu Hardrock ein Dorf zu vernichten, ärgert das selbst manche der traditionell nicht sehr kritischen Intensivgamer. “Durch solche Exzesse wird ein Spiel nicht besser”, klagt einer im Internet.

Ausgerechnet die Deutschen sind nun aber die ersten, die den ewigen Hurra-Militarismus der Spiele brechen. “Die Amerikaner schießen im Nahen Osten auf alles, was sich bewegt – dieses Konzept reicht heute nicht mehr”, sagt Timo Ullmann, Geschäftsführer von Yager. Seine Firma hat “Spec Ops: The Line” entwickelt. Aufwendig entwickelt: 30 bis 40 Millionen Euro soll es gekostet haben. Das wäre sechs bis acht Mal so viel wie das Budget von Til Schweigers Kinoerfolg “Keinohrhasen”.

Ein seltsamer, schöner Sieg des ostdeutschen Denkens liegt auch darin. Die fünf Firmengründer lernten sich Anfang 1986 im “Haus der jungen Talente” in Ostberlin kennen. Dort wurde damals der erste Computerklub der DDR gegründet. Bis heute nennen die Männer sich daher scherzhaft “Computer-Ossis”. Nach der Wende kamen sie mit ihren mühsam geschmuggelten C64 in den Westen und mussten merken, dass dort sie Szene schon wieder viel weiter war. Doch sie hielten Anschluss. Was nun am Schlesischen Tor in Berlin-Kreuzberg fünf Jahre lang produziert wurde, von zeitweise 100 Menschen, ist eines der aufwendigsten deutschen Kulturprodukte dieses Jahres überhaupt. Es soll um die Welt gehen – und wird es wohl auch: Fachmagazine in den USA sind schon jetzt begeistert.

Das zeigt, dass die USA wieder bereit sind für eine Debatte, die das Kino seit den Sechzigern intensiv führte – die um Kriegsfilme und Antikriegsfilme. Letztere zeigen Schrecken des Krieges, ohne zu heroisieren und zu beschönigen. Eine Debatte, ob das möglich sei, begleitet sie von Anfang an. Der Filmwissenschaftler Georg Seeßlen etwa meint schon immer, es gebe gar keine Antikriegsfilme – denn bisher habe noch das übelste Machwerk von sich behauptet, einer zu sein. Das Medium Videospiel könnte diese Frage aber neu verhandeln. Wegen der Besonderheit, dass der Rezipient es steuert, kann es starke Identifikation mit einer Figur erzeugen. Es experimentiert bisher kaum mit der Option, diese wieder scheitern zu lassen. Das tut “Spec Ops: The Line” nun. Bisher ist dem Spieler die Suggestion, er selbst sei der, der da auf dem Bildschirm waltet, noch nie so im Halse stecken geblieben.

Schon nach kurzer Zeit trifft die Hauptfigur auf einen Platz, in dessen Mitte zwei gefesselte Delinquenten von einer Stange herabhängen. Der geheimnisvolle Oberst Konrad, der den Spieler längst beobachtet und verhöhnt, funkt ihn nun an und sagt: Bestimme du doch, wer sterben muss. Einer hat Wasser gestohlen, der andere Unschuldige umgebracht. Jeder muss nun selbst entscheiden. Exekutiert er eine der Personen und gewinnt Konrads Vertrauen? Tötet er keinen und kämpft gegen Konrads Schergen? Befreit er beide? Tatsächlich gibt es mehrere Wege – aber leider, ganz dem psychologischen Theorem des “double bind” folgend, nur paradoxe und keinen einzigen guten. Das macht schizophren, sagt der Philosoph Gregory Bateson. Der Krieg vielleicht auch.

Psychologisch verstörende Situationen wie diese dominieren das Spiel bald immer mehr. Es drückt den Niedergang seiner Protagonisten in einem quasi Gerhardt Hauptmann folgenden Naturalismus aus. Die Welt rebelliert. Sand und Wind rücken immer näher an uns heran, das Licht wird bedrohlich. Man bekommt das Gefühl, eine Studie zur posttraumatischen Belastungsstörung zu spielen – und hat sich auf perfide Weise immer tiefer in Schuld und Sühne verstrickt, irgendwann sogar Kriegsverbrechen begangen. Sterbende, denen man nicht mehr helfen kann, liegen am Boden und klagen uns an. Der Spieler muss hindurch.

Dass sich hier eine Ästhetik des Verstörenden einstellt, ein wahrer Kunstcharakter, liegt nicht an den schönen Bildern des zerstörten Dubai, dieses Symbols der blühenden Zivilisation auf unwahrscheinlichem Posten. Es liegt auch nicht an optischen Details wie der jeder Videokunst würdigen Darstellung vom Sandsturm, an der übrigens ein Mann monatelang arbeitete. Es liegt daran, dass man am Ende dieses Spiels, das lange Spaß machte, den Game-Controller aus der Hand legt und Ekel vor dem Militär und vor sich selbst empfindet.

“Das Ekelhafte und physisch Widerliche”, sagt Adorno in seiner ästhetischen Theorie, zeigt, dass Kunst die “Herrschaft verklagt … und für das zeugt, was jene verdrängt und verleugnet”. Etwa den Horror des Krieges, den auch das Kino derzeit kaum noch zum Thema hat – zuletzt floppte eine Welle von Irak-Filmen seit etwa 2008 fast komplett. Nun ist es ausgerechnet einem Videospiel gelungen, diese Lücke im kritischen Diskurs zu übernehmen.

 

Dieser Artikel erschien zuerst, und zwar im Juli 2012, in Welt, Welt kompakt, Berliner Morgenpost und bei Welt Online.

Neues Magazin WASD: Schlechte Spiele sind gute Spiele

Schlechte Spiele sind gute Spiele

Gut, aber, wenn man es ganz ernst nimmt, auch enttäuschend: Asteroids auf dem Atari 2600

Von Thomas Lindemann

Enttäuschungen beim Spielen gehören dazu. Offenbar sogar von Anfang an. Im Jahr 1980 habe ich, gerade erst im Grundschulalter, die hunderttausend Punkte bei Asteroids geschafft. Eine wahrlich blödsinnige Leistung, die man in keinem Lebenslauf unterbringen kann. Aber ich gab alles dafür. Es hat wochenlanges Training auf meinem VCS 2600 gekostet, wenn man weit genug kam, wurde die Schwierigkeit von einem Level zu nächsten nicht mehr härter, man musste dann nur in einen Fluss reinkommen, schauen, reagieren, und auf die Zahl am oberen Bildschirmrand schielen. Bloß – nach 99950 kam – so ein Schock – wieder die Null. Es gab da gar nichts zu erreichen.

Asteroids ist damit noch kein schlechtes Spiel. Eigentlich im Gegenteil – wenn wir ganz ehrlich sind, würden die meisten von uns viele supermoderne Survival-Shooter und Action-Abenteuer jederzeit gegen es eintauschen. Aber Asteroids zeigt, wie das Enttäuschtwerden zur frühesten Spielerfahrung gehört. Gäbe es einen Sigmund Freud der Games-Theorie – die tiefe Enttäuschung, dass ein Spiel mir nicht gibt, was ich mir gewünscht hatte, wäre sein Ödipuskomplex.

So gehen Chancen dahin: Alma, die Horrorheldin aus der F.E.A.R.-Reihe, hätte eine großartige Figur werden können.

Schlechte Spiele sind gute Spiele. Dieser Satz meint zwei Dinge. Einerseits: Richtig mies sind oft die ganz großen Spiele, in die Millionen gesteckt werden und auf die hunderttausende Fans warten – und dann kommt ein Käse wie „F3AR“ dabei raus.  Und andererseits, schlechte Spiele sind eine gute Sache. Denn von ihnen können wir so viel lernen. Manchmal mehr als von großartigen Spielen. Wir merken durch schlechte Spiele auch erst wieder, was wir uns eigentlich von Games wünschen – und das ist im Moment so wichtig wie nicht anderes. Der Games-Mainstream ist so festgefahren und gleichförmig, dass neue Vorstellungen her müssen, was überhaupt ein wunderbares Spiel sein könnte. Dabei, diese Visionen zu entwickeln, helfen schlechte Spiele.

Überhaupt, apropos FEAR: Das war schon irre, als man im zweiten Teil irgendwann in einer surrealen Fantasy-Landschaft der offensichtlich Schwangeren Alma gegenüberstand, diesem Geistwesen, dass den Spieler in all die Kämpfe warf und immer wieder in wilden Traumbildern die Ballereien unterbrach. Nur: Wenn sie ein Traumwesen aus der anderen Dimension ist, wieso komme ich dann weiter, indem ich auf sie schieße? So dümmlich war ja nicht einmal der 80er-Horrortrash im Stil von „Poltergeist“. Geistern kann man keine reinhauen, es sei denn man ist bei den Ghostbusters. Das gleiche Problem hatte Alan Wake. Tolle Atmosphäre, die erste echte Steven-King-artige Erfahrung in einem Spiel. Am Anfang. Und dann wiederholt sich alles immer nur, und man wundert sich irgendwann doch: Tauchen körperlose Schatten aus dem Jenseits oder was auf, knüppele ich sie einfach nieder? Das soll alles sein?

Die besten Spiele sind oft auch schlechte Spiele. Und in einzelnen Details ist sogar ein Großteil der Spiele schlecht. Wenn mir bei L.A. Noire der Hut vom Kopf fällt, warum kann ich ihn nicht wieder aufsetzen? Warum haben die Macher von Vampire Rain: Altered Species eine ziemlich hübsche beklemmende Welt erschaffen, tolle Musik eingekauft und das Spiel dann so absurd schwer gemacht, dass niemand daran Spaß hatte? Und, soll das eine Story sein in „Crysis“? Die Aliens kommen, die Nordkoreaner auch, alle schießen auf alle, man fliegt weg von der Insel und dann wieder zurück, und das wars. Zugegeben, das war jetzt arg verkürzt. Die hanebüchenen Details fehlen. Es bliebe auch mit ihnen eine Zumutung. Und das für ein Publikum, dass so komplex zeitlich verschachtelte Mehrpersonen-Geschichten wie Pulp Fiction verstanden und geliebt hat.

David Cage, der Macher der Spiele „Fahrenheit“ und „Heavy Rain“, sagte mir einmal im Interview: „Ich bin erwachsen geworden, ich habe Kinder, ich habe wenig Zeit. Was soll ich mit einem schweren Spiel, das mich frustriert?“ Nun haben wir uns alle vielleicht auch mit etwas zu viel Lob auf sein „Heavy Rain“ gestürzt damals – so gut, dass man es immer wieder einlegen möchte, ist es auch wieder nicht. Aber es war ein Anfang. Man hat gemerkt: Es geht doch auch anders!

„Es könnte auch anders sein“, der große und simple Satz des Systemtheoretikers Niklas Luhmann, ist der Kern jeder progressiven Kulturkritik. Man muss sich nur mal vorstellen, was es alles geben könnte – selbst wenn es niemand macht – und schon gibt es an der herrlich bunten Gameswelt unserer Millionenkonzerne manches zu bemängeln. Sie nutzen nämlich viel zu oft die Möglichkeiten nicht, die sie hätten – auch deswegen sind ihre Hits oft einfach schlechte Spiele, egal wie viele Millionen sie kaufen. Wer braucht denn ein Hellboy-Spiel, das genauso funktioniert wie alle Actionspiele, nur viel schlechter und ganz einfallslos – dafür hätte Guillermo del Toro sich nicht auf den weiten Weg von Hollywood zur deutschen Gamesmesse machen müssen. Und wer freut sich wirklich an den Muskelsoldaten aus Space Marines, wenn mit Duke Nuke Em Forever gleichzeitig die endgültige Parodie des Machismo im Spiel herauskommt?

Das führen einem die wenigen fantastischen und besonders ungewöhnlichen jedes Jahres vor Augen – verrückte Dinge wie Child of Eden oder Portal, die einfach mal alles anders machen und beweisen, dass so viel Großartiges denkbar ist. Aber genau das führen einem auch schlechte Spiele vor Augen. Spielt man sie, weiß man wieder, was man sich eigentlich von einem Game wünscht. Insofern: Schlechte Spiele sind gute Spiele.

 

Der Autor ist Kulturjournalist, lebt in Berlin und betreibt eine blogartige Artikelsammlung unter www.games-feuilleton.de. Geboren wurde er im selben Jahr wie das erste große Videospiel, Pong.

Dieser Artikel erschien zuerst in “WASD” (Nr. 1/Juni 2012), einem hervorragenden neuen Kulturmagazin für erwachsene Videospieler, entstanden unter Regie des Journalisten Christian Schiffer. Man kann das Heft bestellen unter wasd-magazin.de (und das ist auch zu empfehlen).

Max Payne 3: Höhepunkt und Sackgasse. Das Problem der Narration.

Katholisches Inferno

Max Payne 3 ist eines der Videospiele des Jahres. Aber es zeigt auch, wie Rockstar Games, die wegweisende wichtigste Gamesfirma der Welt, mit ihren Ideen langsam in die Sackgasse gerät. Sie braucht einfach neue, um cool zu bleiben – mit ihren bisherigen hat sie sich zu Tode gesiegt. Eine der Fragen, die sich inzwischen aufdrängen: Warum immer wieder nur Stories um schuldbeladene Männer, die das reinigende Feuer suchen?

Von Thomas Lindemann

Action-Helden sterben nicht. Aber ein einziges Mal hätte es Max Payne, diesen Ex-Bullen und Revolvermann der modernen Großstadt, fast erwischt. Es gibt eine Szene, da hätte er keine Chance gehabt gegen einen Hinterhalt, doch plötzlich springt neben ihm ein Verwahrloster aus seiner Wohnungstür. Ein Gescheiterter, unbehost, langhaarig, im Parka, und er rettet Max, indem er den Angreifer erschießt. Ringsherum brennt es schon. Der Penner sagt dann zu Max, also zu uns, den Spielern: „Keine Angst vor dem Feuer. Es wird dich reinigen.“

Dieses tief katholische Motiv ist der Grundgedanke dieses Spiels – vielleicht sogar der Grundgedanke bei „Rockstar Games“, dem Hersteller, der uns auch andere wegweisende Spiele wie „Grand Theft Auto“ oder „Red Dead Redemption“ brachte. Vor wenigen Tagen ist „Max Payne 3“ erschienen und wieder wird eine der ganz großen Spielereihen fortgesetzt. Wieder campierten Fans vor Geschäften. Wieder werden Millionen umgesetzt.

Das erste „Max Payne“ erschient vor elf Jahren, erzählte von einer Verschwörung innerhalb der New Yorker Polizei und vom Rachefeldzug des Max Payne, dessen Frau und Kind ermordet wurden, weil sie zuviel wussten. Das Spiel war eine große Schießerei und wurde in Deutschland sofort indiziert. Aber Henry Jenkins vom M.I.T., Gamesforscher der ersten Stunde, nannte es Kunst. Man kann in dem Spiel und seinen Nachfolgern die Zeit verlagsamen, jenen Effekt erleben und steuern, den die „Matrix“-Filme aufbrachten. Alles im Dienst des Kampfes. Max Payne ist ein Pistolenballett, eine überzogene Ballerei im Stil des Hongkong-Regisseurs John Woo. Wäre Max Payne Kino, hätte es sicher schon viel Lob für seine opulente und düstere Szenerie erhalten.

Aber es ist ein Videospiel. Und so fand sich etwa bei den Kollegen von der „Zeit“ doch tatsächlich jemand, um in das kulturkonservative Horn zu stoßen – bloße Gewaltorgie sei das Spiel und „MTV-hafte“ Inszenierung des Tötens. Die Fachmagazine für Spieler dagegen loben es schon jetzt zum Klassiker hoch, wer ein Wertungssystem hat, vergibt oft die höchste mögliche Punktzahl. Beides ist Unsinn. Das Spiel ist gelungen, seine Geschichte komplex, seine Bilder sind atemberaubend. Und trotzdem funktionert es nicht ganz, es zeigt, dass das Prinzip von Rockstar Games hier an ein Ende kommt.

Doch zunächst bringt das Spiel eine großartige Erkenntnis: Videospiele beerben den Film inzwischen ganz bewusst. Max Payne 3 etwa hat das Problem der subjektiven Perspektive gelöst. Man sieht zwar im Bild den Mann, den man da steuert, gleichzeitig ist man auch er. Dieses Paradox löst das Spiel über Effekte: Max ist tablettensüchtig, leidet an Schwindel und, wie der Psychologe sagen würde, Identitätsdiffusion. Und das sieht man eben auch. Denn das Bild flackert und flirrt und gibt dem Spieler so den Gemütszustand seiner Figur. Robert Montgomerys Film „Lady in the Lake“ hatte 1947 versucht, alles aus dem Blick des Protagonisten zu zeigen und ihn selbst somit nie. Das Experiment scheiterte. Max Payne macht es umgekehrt, es zeigt den Protagonisten immer und färbt das Bild doch gleichzeitig mit seiner Subjektivität. Das funktioniert erstaunlich gut.

Das Spiel erzählt auch etwas – ein Gangsterepos aus Sao Paolo, wo die Reichen mit Kokain und Blick auf die Favelas im Penthouse feiern, wo die dunkle Seite des Kapitalismus seine einzige ist. Dort erlebt Max Payne, der letzte Aufrechte, der immerhin Wort halten will in einer Hölle aus Neid und Lüge, eine Geschichte um Intrigen und Verrat. Zweimal gleich ist alles nicht, wie es scheint. Und dann ist da ein erhabener Moment der großen Umkehr, der stets versoffene Max Payne wirft die letzte Whiskyflasche in den Spiegel, schert sich die Haare und zieht los, um endgültig mit dem Bösen aufzuräumen. Das zitiert so viele kulturelle Bilder, von Travis Bickle aus „Taxi Driver“ bis zu Walter White aus „Breaking Bad“, man weiß gar nicht, wo man anfangen soll, Anspielungen zu sehen. Vielleicht bei „Pat Garrett jagt Billy the Kid“, auf dessen Höhepunkt Garrett in den Spiegel schießt, weil er sich selbst verachtet.

Das passt, denn das Selbstmitleid ist ein großes Thema von Max Payne, das immer wieder in den Monologen des Helden vorkommt. Der unrasierte, scheinbar harte Kerl trägt es bis ins Unerträgliche vor sich her. Dass er eine Psychologie hat, ist neu. Überhaupt ist es neu, dass Videospielfiguren etwas empfinden.

Daran hat auch der großartige Hersteller dieses Spiels Anteil gehabt. Die New Yorker Firma Rockstar Games ist jahrelang die größte und wichtigste gewesen für jeden, der ernstzunehmende, epische Spiele wollte. Doch nun kommt ihr Prinzip an sein Ende. Die auf Dauer sehr mechanische Ballerei wirkt immer lächerlicher im Vergleich zu den großartig komplexen Hintergrundgeschichten. Letztere sind verschachtelt, am Film Noir geschult, und mit visuellen Überraschungen inszeniert. So schachteln sich Gegenwart und Erinnerungen kaum merklich ineinander, die Silhouette der Figur Payne bleibt aber – er bückt sich im Jetzt nach einer Dose Bier, plötzlich wandelt sich alles außer ihm selbst, die Dose ist ein Blumenstrauß geworden, den er am Grab seiner Familie niederlegt. Wie könnte man schöner die traurige Wahrheit illustrieren, dass der Säufer tief in Melancholie und Vergangenheit lebt.

Doch die Schieß-Sequenzen, das einzige, das der Spieler selbst steuert, sind dagegen einfach zu stumpf – immer neue Feinde, immer in absurder Zahl, kommen aus allen Türen und um alle Ecken auf das Spieler-Ich zugerannt. Bei anderen Shootern muss man immerhin mal ein Schnellboot fahren oder ein Schloss knacken. Nicht bei Max Payne. Er ist wie der Blues – bodenständig, ehrlich, und leider immer das gleiche.

Und nicht nur das, Rockstar Games kommt auch in inhaltlicher Hinsicht an eine Grenze. Die Köpfe des Unternehmens, die Brüder Sam und Dan Houser, lieben die Geschichte des einsamen Helden, der Last an einer dunklen Vergangenheit trägt. Alle Ihre Helden waren gebrochen und hatten Schuld auf sich geladen. Da war Nico Bellic aus „GTA4“, der Serbe, der es in New York als Gangster versucht und aus dem Balkankrieg eine offene Rechnung sowie ein sehr schlechtes Gewissen mitbringt. Da war John Marston, der einsame Reiter aus „Red Dead Redemption“, der einst Gunman war und am Ende des Spiels büßen wird. Und da war Cole Phelps aus dem Spiel „L. A. Noire“, der Schuld aus dem Zweiten Weltkrieg mitbrachte und am Ende der Story dafür bezahlen wird. Griechische Tragödien, in deren Zentrum harte Männer zerbrechen. Das war mal höchst innovativ, schließlich hatten Videospiele kaum überhaupt eine Story. Inzwischen möchte man einfach nur noch eins dazu sagen: Es wird dringend Zeit für eine zweite Idee!

Max Payne 3 ist technisch brillant. Aber es kann sich nicht recht zwischen stumpfer Action und kluger Idee entscheiden. Es war klar, dass niemand die Spiele von Rockstar Games übertrumpfen kann, sie mussten sich selbst besiegen: Hier schafft fällt der Action-Shooter mit ausgefeilter Story quasi dialektisch in sich zusammen. Er wurde bis an sein Maximum getrieben, man spürt schon, dass mehr nicht geht. Man kann ihn nun noch ein letztes Mal genießen.

Eine ähnliche, nur etwas kürzere Fassung dieses Artikels erschien am 1. Juni 2012 im Feuilleton der „Welt“

 

Gamestage 2012: Kunstanspruch oder Gratiskultur?

Am 24. April 2012 beginnen die Deutschen Gamestage mit der Entwicklerkonferenz Quo Vadis und A Maze, dem Festival für Independent Games. Auf der Konferenz, der wichtigsten dieser Art in Deutschland, kann man sehen und hören, was die Spielemacher des Landes gerade umtreibt.

Der untenstehende Artikel ist eine Langfassung meines Textes, der am 24.4. im Kulturteil der Welt sowie in Welt kompakt erschien. Der Link zu Welt Online und der dortigen Fassung wird nachgereicht – bisher (Stand 7:50 Uhr) ist der Artikel nur in der gedruckten Ausgabe zu lesen.

 

Auch wenn es nicht so aussieht, dies ist ein Videospiel: "TwinKomplex", ein Verschwörungsthriller, den man online im Browser spielt. Ein kunstvolles und kluges Gratis-Spiel - in diesem Genre ist das eine große Ausnahme. (Foto: ludicphilosophy.com)

 

Bernd das Brot oder Joseph Conrad?

In Berlin beginnen die Deutschen Gamestage 2012 – die Konferenz der Spieleentwickler ist auch ein Seismograph für die Stimmung in der Szene. Dies Jahr spürt man, wie die Gratiskultur die Spielemachern  beflügelt und ihnen gleichzeitig arg zusetzt: Denn sie stört den Anspruch, das Spiele auch Kunst sein können

Von Thomas Lindemann

Früher lagen hier sturzbetrunkene Mädchen in den Ecken, und die besten DJs Europas legten dazu auf. Heute Nachmittag beginnen im Café Moskau, diesem vom Szeneclub zum Kongresshaus gewandelten Symbolort in Berlin-Mitte, die Deutschen Gamestage – das wichtigste Treffen der deutschen Macher von Videospielen. Keiner, der in dieser vergleichsweise jungen Sparte schreibt, programmiert oder konzipiert, wird fehlen. In diesen Tagen kommt das Konklave einer neuen Unterhaltungsindustrie in die Hauptstadt.

Wenn die Kardinäle nun also beisammen sitzen, wird man ein Schlagwort immer wieder hören: “Free to play! Free to play!” Der Anglizismus umschreibt Spiele, die nichts kosten – und das ist derzeit das ganz große Erfolgsmodell dieser Kulturabteilung. Sie lebt von Games, die man im Browser spielt, oft bei der Arbeit, die den Spieler in Fantasy-Welten führen oder zum virtuellen Bauern machen – und die nichts kosten. Nur wer tief in die Spielwelt einsteigen will, der kauft seinem Helden für zwei echte Euros ein besonders schönes Pferd. Manche Firma ist mit diesem Prinzip aus dem Nichts zum großen Player aufgestiegen – allen voran der Hamburger Hersteller Bigpoint, der kaum zehn Jahre alt ist und schon 800 Menschen beschäftigt.

Aber auch wenn es kaum jemand offen sagt, inhaltlich ist das ewige “Free to play” auch eine herbe Enttäuschung. Große Videospiele waren bisher stolze Einzelwerke, kosteten 60 Euro und wurden von Hundertschaften jahrelang entwickelt. So entstanden die Trash-Epen der “Grand Theft Auto”-Reihe oder der interaktive Noir-Thriller “Heavy Rain”. So entstand überhaupt erst der Anspruch, Videospiele könnten Kunst sein. Mit Free-to-Play-Browser-Spielen über elektronische Bauernhöfe wäre es nie dazu gekommen, dass der Kulturstaatsminister am Donnerstag zum vierten Mal den Deutschen Computerspielpreis vergibt.

Dieses Dilemma steckt der Videospielszene in den Knochen, und darüber wird sie nun drei Tage debattieren. Das Programm der Entwicklerkonferenz “Quo Vadis”, Herz der Gamestage, verrät alles über die Sorgen und Hoffnungen deutscher Spielemacher. Immer wieder geht es darin um kostenlose Online-Spiele, Vorträge über “virtuelle Güter” werden gehalten, jemand spricht zwei Stunden über den Trend zu Bauernhofspielen wie “Farmville”. Der Spielekonzern Ubisoft wird ein neues Spiel vorstellen – free to play, natürlich. Fast vergeblich sucht man Vorträge über die großen, teuren Blockbuster, die technisch hochkomplexen Spiele, zu denen es oft tausendseitige Drehbücher mit ausführlichen Geschichten gibt.

Doch die Gamestage würden ihrer Bedeutung nicht gerecht, käme das nicht zumindest am Rande vor, und so wird etwa Michal Nowakowsi anreisen. Der Warschauer hat in sein Fantasy-Spiel “The Witcher” konsequent Erotik eingebaut und somit ein überflüssiges Tabu der Games-Szene gebrochen – eine halbe Million Spiele wurden verkauft. Nun kommt der Pole nach Berlin, um seinen deutschen Kollegen zu erklären, wie man mutige Konzepte umsetzt. Natürlich ist genau der fehlende Mut das wirkliche Hemmnis der deutschen Spielemacher. Denn selbst Browserspiele und Gratisspiele können eigentlich anders. Das sieht man etwa an “Trauma”, wo man eine Frau spielt, die nach einem Verkehrsunfall trau-matisiert ist und nicht wieder auf die Beine kommt.

Oder am eigenwilligen “TwinKomplex”, einer online zu spielenden Verschwörungsgeschichte, gemacht vom Künstler und Kulturtheoretiker Martin Burckhardt, gedreht mit großen Schauspielern wie Bernhard Schütz, Christian Brückner und Irm Hermann. Die Geschichte wird von einem Autorenteam weitergeschrieben, während die Fans bereits online den Anfang spielen – Ergebnis offen, selbst für die Macher des Spiels. Das alles ist möglich – aber es bleibt in Deutschland die Ausnahme. Das Problem widerspiegelt sich auf allen Ebenen. Es steckt letztlich auch hinter der gerade aufgeflammten Diskussion um die praktisch nicht vorhandene öffentliche Förderung von Videospielen. Während der deutsche Film rund 300 Millionen Euro an Fördergeldern bekommt, erhält das deutsche Videospiel nicht einmal ein Hundertstel davon.

Aber das ist nicht einmal das Hauptproblem. Traurig liest sich auch die Liste der Spiele, die gefördert werden, allesamt uninspirierte Massenware. Eine Spielfassung von “Bernd das Brot” hat rund 150.000 Euro bekommen. “Airline Tycoon” gut halb soviel. Eine Mensch-ärgere-dich-nicht-Adaption wird mit 40.000 Euro gefördert.

Gemein wäre allerdings die Behauptung, aus Deutschland kämen nicht auch kulturell relevante Spiele. Sie stehen derzeit nur schlicht nicht im Mittelpunkt. Beim Deutschen Computerspielpreis, der am Donnerstagabend als Höhepunkt der Games-Tage vergeben wird, ist ganz zurecht wieder die Hamburger Firma Daedalic Favorit – ihre etwas verrückten Werke befassten sich bisher mit Ökologie und Zeitreisen, einem Ausbruch aus dem Irrenhaus – und nun, in “Harveys neue Augen”, mit einer schüchternen Klosterschülerin, die aus Versehen Klassenkameraden angreift. Dieser herrliche Blödsinn ist ein Segen für die deutsche Szene.

Allerdings machen die Hamburger so genannte “Point & Click-Adventures”, technisch einfache Abenteuerspiele, bei denen man mit der Maus wählt, wohin man gehen möchte. Über das Genre stöhnte ein Mitglied der Computerspielpreis-Jury bereits im vergangenen Jahr: “Der deutsche Entwickler lebt und stirbt mit dem Point-and-Click-Abenteuer. Es langweilt uns alle.”

Trotzdem wird die Jury das Spiel gern auszeichnen, schon weil man es beim Deutschen Computerspielpreis ansonsten viel mit Kleinkram zu tun hat, von “Das verrückte Labyrinth” bis zum sehr soliden, aber überhaupt nicht überraschenden Fantasy-Spiel “Drakensang Online”. Zwar ist dieses Jahr mit dem Egoshooter “Crysis2″ überraschenderweise auch ein Ab-18-Spiel dabei, aber trotzdem liest sich auch die Nominiertenliste der LARA – des kommerziellen Preises, der am selben Abend vergeben wird – viel interessanter. Hier erst findet man “Battlefield 3″, “L. A. Noire”, “Portal 2″ – jene Spiele eben, über die im Jahr 2011 wirklich geredet wurde.

Wenn am letzten Abend der Games-Tage eine Runde großer Entwickler die Kaffeesatz-Frage “Wohin geht es in der Games-Branche?” beantworten soll, sitzt immerhin auch Timo Ullmann dabei, dessen Firma Yager mit “Spec Ops The Line” gerade ein hochaufwendiges Spiel fertiggestellt hat, dessen Budget Gerüchten zufolge mindestens 20 Millionen Euro groß war. Es wird in diesem Jahr das einzige deutsche Spiel von Weltrang werden – ein surreales Kriegsspiel, das Joseph Conrads Roman “Herz der Finsternis” in einen modernen Konflikt in Nahost überträgt. Die Ausschnitte, die bisher zu sehen waren, versprechen ein bitteres Szenario, welches das Scheitern der amerikanischen Militärmacht fühlbar machen will.

Damit könnte das Genre der Kriegsspiele – seit einigen Jahren das beliebteste von allen, mit seltsamen Rekord-Verkaufsmeldungen wie “6 Millionen Spiele in 24 Stunden” – endlich neue Impulse bekommen und von seiner albern affirmativen Ästhetik befreit werden. Bisher wird dort noch jedes Spiel mit dem Hinweis auf die “wahre, realistische Kriegserfahrung” beworben. Nun könnten es ausgerechnet die Deutschen sein, die das Gefühl von Albtraum und Beklemmung wieder zurückbringen. Das wäre des Landes von E.T.A. Hoffmann und Novalis vielleicht wieder würdig. Und es wäre ein Weg für Videospiele, wirklich künstlerische Aussagekraft zu erreichen. Mindestens aber wäre eine Debatte darüber ein würdiger Abschluss für das große Entwicklertreffen in Berlin.

 

 

Deutschlands große Entwicklerkonferenz und ihr Programm unter: www.deutsche-gamestage.de

Förderungsdebatte 2012: Filme bekommen 300 Mio., Videospiele nicht einmal 3 Mio.

„Wir sind keine Oper, aber auf dem gleichen Niveau“

Deutschlands Videospiele-Macher sind sauer: Der deutsche Film bekommt jährlich rund 300 Millionen Euro Förderung. Sie bekommen fast nichts. Nun regt sich Protest

Von Thomas Lindemann

 

Eine ähnliche Fassung dieses Artikels erschien am 17. April 2012 in der WELT. Hier der Link zur dortigen Ausgabe: http://www.welt.de/print/die_welt/kultur/article106189782/Wir-haben-das-gleiche-Niveau-wie-eine-Oper.html 

 

Für die deutschen Filmproduzenten gab es kürzlich gute Nachrichten, persönlich überbracht von Kulturstaatsminister Bernd Neumann. Der besuchte im Februar ihre Jahrestagung und sagte dort, es sei ihm „ ein großes Anliegen, dass die Erfolgsgeschichte des Deutschen Filmförderfonds uneingeschränkt fortgeschrieben werden kann.“ Damit war klar, dass der Deutsche Filmförderfonds weitergeführt wird. In ihm wurden die Bundessubventionen für Film und Kino vor fünf Jahren neu organisiert und gebündelt, und zwar zunächst bis 2012.

Von Computerspielen war keine Rede, auch nicht in den nachfolgenden Mitteilungen des Kulturstaatsministers. Darüber ärgern sich jetzt einige aus der deutschen Videospielszene – unter dem etwas sperrigen Namen „Novelliert die Medienförderung – Gleichberechtigung für Games“ haben mehrere Produzenten und Unternehmer eine Initiative gegründet, die auch für Spiele mehr Förderung will. Das ist, nur wenige Tage vor den „Deutschen Gamestagen“, dem wichtigsten Branchentreffen der Spieleentwickler, und der Verleihung des Deutschen Computerspielpreises, durchaus brisant. Denn kein anderer als Bernd Neumann wird in neun Tagen auf einer Berliner Bühne stehen, um diesen Preis zu vergeben – und wird sich dann wohl zu der neuen Debatte um die Spieleförderung äußern müssen.

Nimmt man ernst, dass Videospiele ein Teil der deutschen Kulturproduktion sind, wirkt das Missverhältnis in der Tat eklatant: Etwa 300 Millionen Euro an Fördergeld fließen jährlich in den deutschen Film. Rund 60 Millionen durch den erwähnten Filmförderfonds DFFF, dazu kommen vor allem die Gelder der Länderförderungen. Videspiele dagegen erhalten nicht einmal ein Hunderstel dieser Summe. 300.000 Euro werden nächste Woche beim Deutschen Computerspielpreis vergeben. Daneben gibt es nur noch ein paar Einzelinstitute wie die Mitteldeutsche Medienförderung oder das Medienboard Berlin-Brandenburg. Sie geben hier und da einen deutschen Spieleentwickler mal mit 40.000, mal 80.000 Euro. Die Spieleförderung in Deutschland dürfte insgesamt klar unter zwei Millionen Euro liegen.

Nun ist die Filmförderung, wie jede Kultursubvention, seit jeher umstritten – und es gibt immer schon ein gutes Gegenargument gegen alle Kritiker: Sie „refinanziert“ sich, wie es im Finanzdeutsch heißt, das investierte Geld wird teils wieder zurückgezahlt, stärkt ansonsten eine Industrie, deren Umsatzsteuer an den Staats zurückfließt. Deswegen war die Kritik etwa daran, dass Quentin Tarantinos „Inglorious Basterds“ mit rund sieben Millionen Euro unterstützt wurde, immer schon überflüssig. Die Filmförderung ist mindestens so sehr Wirtschafts- wie Kulturförderung. Genau das will aber nun die Spielebranche für sich geltend machen. Verschiedene Rechnungen vermuten, dass 10.000 bis 18.000 Menschen in der deutschen Spieleindustrie arbeiten, 2 Milliarden Euro wurden 2011 in Deutschland für Spiele ausgegeben. Das kann sich mit der Filmindustrie längst messen.

Die Spielemacher werden nun also selbstbewusster, auch wenn sie sich mit ihrer neuen Forderung vorsichtig geben. Ins Leben gerufen wurde die Initiave von Stephan Reichart, einem innerhalb der Gamesbranche sehr bekannten Mann. Der studierte Geisteswissenschaftler und Unternehmer organisiert die Deutschen Gamestage und war Geschäftsführer des Entwicklerverbandes. Nun aber betont er immer wieder, dass er „nur als Privatperson“ den Aufruf zu einer neuen Medienförderung gestartet habe. Und: „Es geht nicht darum, alles umzuschichten“, sagt Reichart – der sich auch einen besonderen Fan des deutschen Films nennt. „Wir wollen zunächst nur darauf hinweisen, dass die Verteilung ungerecht ist.“ Er könnte sich Modelle wie einen Games-Förderfonds vorstellen, will aber nichts nahelegen, sondern nur eine Debatte starten.

Das scheint schon jetzt gelungen. Die größten rein deutschen Spielehersteller haben sich seinem Aufruf schon angeschlossen. Das liegt auch an Druck aus dem Ausland. In den letzten Tagen wurde bekannt, dass die europäischen Nachbarländer ihre Videospielbranchen stark fördern wollen. Der britische Entwicklerverband TIGA verkündete stolz, dass die Regierung massive Steuererleichterungen für Spielefirmen plane, von mindestens 20 Prozent ist die Rede. Und sogar Italien will seine Games-Industrie so stärken. Ein Gesetzentwurf dazu wurde ausgerechnet aus Berlusconis christlich-konservativer Partei Popola della Libertà eingebracht.

Wenn es einen Deutschen gibt, der daran arbeitet, Videospiele zum Kulturgut zu machen, ist das der Hamburger Carsten Fichtelmann. Seine Firma Daedalic Entertainment gewinnt regelmäßig alle wichtigen Spielepreise, sie macht Abenteuerspiele, die technisch recht konventionell, inhaltich aber ungewöhnlich und oft humorvoll sind. Etwa „Edna bricht aus“, bei dem man einer Comic-Figur aus dem Irrenhaus heraushelfen musste, oder das Öko-Abenteuer „A New Beginning“. Fichtelmann tritt nun auch für einen Wandel bei der Förderung ein. „Es ist unsagbar schwer, als Produzent von Computerspielen für seine Ideen eine Investition zu bekommen“, erklärt er. Seit die klassischen Hersteller von Spielen vorsichtiger werden und der Markt sich zum Online-Download hin verlagert, habe sich das noch verschärft. Und von Bedenken, dass Spiele noch nicht den gleichen Status als Kulturgut haben, den der Film doch zumindest teilweise für sich Anspruch nehmen darf, will er gar nichts wissen: „Wir sind keine Oper, machen aber auf dem gleichen Niveau Kultur.“

Ich war im Fernsehen… als “Sci-Fi- und Games-Experte”

Die 3sat-Sendung “Nano” hat mich gebeten, mit einem Redakteur über den Roman “Darknet” zu sprechen, in dem Games eine bedeutende Rolle spielen. Wir sind bei der Gelegenheit dann einfach in das großartige Computerspielemuseum in Berlin gefahren und ich habe dort ein paar Dinge vorgeführt, die Spiele heute so können.

Heimliches Highlight: Die Szene, in der der (übrigens sehr nette) Redakteur virtuell Tennisbälle ins Gesicht bekommt. Das hat er sich anders vorgestellt. Es ist wohl einfach doch ein Gewaltspiel, dieser horrorharte 3DS-Kram.

http://www.3sat.de/page/?source=%2Fnano%2Fbt%2F157595%2Findex.html

Godzillas Riesenbaby – Wer sind das, Games, und was wollen die?



Eine ähnliche Fassung dieses Textes ist in SPEX 11/12-2011 erschienen, als Aufmacher eines Specials über Videospiele. Das Heft ist seit Mitte Dezember 2011 nicht mehr am Kiosk.


Godzillas Riesenbaby

Wo bleibt der Roland Barthes der Games-Theorie, wo der Georg Seeßlen der Spielehochschulen? Die Wissenschaft steht auf traurigem Niveau, die Kritik sowieso, der Underground hat wenig Chancen. Videospiele entwickeln sich toll, kämpfen dabei aber mit einigen Problemen.

Text: Thomas Lindemann

Jeden Sommer kommen sie aus der ganzen Welt nach Köln, all die Games-Konzerne aus Fernost und Übersee, um ihre Neuheiten auf der GamesCom, der weltgrößten Messe für »interaktive Spiele und Unterhaltung« zu präsentieren. 2011 gab es vor allem altbekannte Massenware zu sehen; die Shows waren enttäuschend, aber sehr laut. Und dann: ein lichter Moment. Schwarz tritt ein einsamer Kämpfer vor eine rote Sonne, sein Schatten zeichnet sich weiß in Scherenschnitt-Optik ab. Eine Ästhetik wie in Frank Millers Sin-City, nur gewagter. Da schien ein moderner Kunst-Comic als Game zum Leben zu erwachen. Wow! So ein Spiel sollte es jetzt geben? – Natürlich nicht! Es war die kunstvolle Inszenierung eines Trailers zu Resistance 3 – und sie konnte nicht darüber hinwegtäuschen, dass das Spiel selbst dem üblichen Paradigma aktueller Action-Games folgt: dem Fotorealismus. Alles soll so aussehen, dass man es für »echt« hält. Das ist oft frappant, und häufig hübsch anzusehen, aber immer auch etwas traurig, wenn sich darin die Ästhetik-Diskussion erschöpft.

Das Videospiel stapft derzeit ein bisschen wie Godzillas Riesenbaby durch die Kulturlandschaft. Seine Entwicklung war wirtschaftlich atemberaubend, es hat sozusagen mächtige Muskeln bekommen. Künstlerisch und diskursiv ist es aber nicht ganz mitgekommen. Es fehlt an Selbstreflexion, und ein eigener theoretischer Ansatz, wie ihn die Game Studies proklamieren, will nicht so Recht in die Gänge kommen. Ob Gaming nun affirmativ sei oder kritisch, welche erhellenden Einsichten es transportieren kann, ob es sich mit Diskursen anderer Kunstformen kurzschließen lässt, all das spielt auf Veranstaltungen wie der GamesCom eine untergeordnete Rolle.

Das muss sich ändern, und es wird. Denn, erinnern wir uns, alles begann doch so großartig. Ende der Neunziger hörten wir nächtelang Chemical Brothers und spielten dazu Mario Cart auf einer SNES-Simulation für den PC. Beides war gnadenlos plastic, aber so konsequent und humorvoll, dass man sprachlos war. Dann kamen die privaten LAN-Parties und Echtzeit-Strategiespiele wie StarCraft, später das popaffine Musikspiel Rez, und dann schon das totalitäre Sci-Fi-Regime in Half-Life. Die Spiele wurden immer irrer und, immer schöner. Und die Kulturzausel in Politik, Medien und Wissenschaft da draußen wussten nicht einmal, dass es das gab, während sie sich im Pfründesystem des bundesdeutschen Betriebs um ihre Fleischtöpfe stritten. Spielen war Haltung. Subversion mit Freude daran. So ähnlich wie vielleicht wie Heaven 17 Hören Anfang der Achtziger.

Noch etwas fiel während der GamesCom im Sommer 2011 auf: Beim Entwicklerverband, der doch diejenigen vertritt, die Spiele erschaffen, die Club Mate trinken und für ihre Sache brennen – ausgerechnet da sah man Schlipse, Schlipse, Schlipse. Die Investoren und Geldmacher sind präsenter als je zuvor. Sie duzen sich nicht und sie sind neuerdings Herr über die Gästelisten. Die coolen Gestalten muss man inzwischen suchen. Die Gleichförmigkeit des Mainstreams ist nicht wegzureden, auch nicht aus den groß angekündigten Spielen der letzten Monate. Von dem x-ten Teil der Fußball-, Football- oder Basketballsimulationen wollen wir gar nicht sprechen. Aber da war etwa das plumpe Space Marines, in dem der Spieler als uniformierter Klopper mit übergroßen Schultern an der Kriegsfront alles plattmacht. Oder die Fortsetzung der Fear-Reihe, dieses Horror-Egoshooters, der in früheren Teilen seltsame Traumszenen enthielt, in denen ein kleines Mädchen namens Alma den Spieler attackierte. Das war clever, da steckte Blattys Exorzist als Zitat drin und Das Omen von Richard Donner sowieso. Zugleich funktionierte das Game als bitterer Kommentar zum Thema Kindesmissbrauch: Die tödliche kleine Alma, so erfuhr man später im Spiel, war Missbrauchsopfer und rächte sich für die perverse Experimente, die an ihr durchgeführt worden waren. Nun entpuppt sich der dritte Teil der Serie F3AR aber als dummes, stumpfes Kriegsspiel. Und auch das neueste Deus Ex ist eine Enttäuschung. Als Vision einer Zukunft, in der Menschen sich durch Maschinenteile aufpeppen lassen, besitzt das Spiel durchaus referentielles Potential, handelt es sich hier doch um eine Form von Transhumanismus, wie er auch in aktuellen Suhrkamp-Bändchen diskutiert wird. Aber die Umsetzung – ein Kerl ballert sich zur Rettung der Welt durch machistische Machtphantasien – so etwas war schon bei Rambo II und Rambo III reaktionär. Heute sollen wir die Pille erneut fressen und uns dabei auch noch freuen.

Aber Spiele können auch für Überraschungen sorgen und wach machen. So wie das herrliche Musikspiel Child of Eden, dessen Soundtrack je nach Spielstil immer anders klingt. Oder Portal 2, in dem man nicht mit Kugeln schießt, sondern mit Türen, die sich in den Wänden plötzlich auftun. Die funktionieren dann wie Teleporter und erschließen als waghalsiger 3D-Gag ein ganz neues Raumgefühl. Es gab From Dust, in dem man Gott spielt und Landschaften formt – die metaphysische Klimax aller imperialistischen und zivilisatorischen Strategiespiele. Und demnächst kommt Max Payne 3 auf den Markt, dann geht eine bedrückende Hardboiled-Story in hoch konsequentem Design weiter, die man mindestens jedem der neueren Filme von Tarantino vorziehen würde.

Großartiges steht neben einer Übermacht von Mist, in diesem Widerspruch steckt die Games-Branche derzeit. Auflösen kann sie ihn nicht, aber offenbar herrscht ein großer Drang, ihn einzuordnen und das eigene Prinzip, die eigene Entwicklung zu begreifen. Ein Zeichen dafür ist die rasante Musealisierung: Das deutsche Computerspielemuseum, als Sammlung schon 15 Jahre existent, bezog zum Jahresanfang erstmals würdige Räume in Berlin Friedrichshain. Das Smithsonian, eine der größten US-amerikanischen Forschungs- und Bildungseinrichtungen, die mehrere Institute und Museen umfasst, kündigte für 2012 eine umfassende und komplexe Ausstellung seiner historischen Games-Sammlung an, und das British Museum bietet seinen Besuchern einen Design-Workshop zum Thema Retro Game. »Spiele sind in der Gesellschaft angekommen.«, dieser Satz wurde aus der Gamer-Szene heraus lange wie ein Mantra beschworen, heute ist er wahr geworden – nur nicht ganz so, wie man sich das immer gewünscht hatte.

Das Establishment will Games, aber bitte der harmlosen Art. In Deutschland sorgt auch die Zensur für Zahnlosigkeit. Bilderbuchhaft führt dies der Deutsche Computerspielepreis vor, den Kulturminister Bernd Neumann Anfang 2009 ins Leben rief. Wenn man schon den deutschen Film jährlich mit knapp 200 Millionen Euro fördert, dann kann man doch diese junge Kulturbranche Games auch mal mit 300.000 Euro dotieren. Unter den Anwärtern befindet allerdings nie auch nur ein Spiel, das vom Jugendschutz als »ab 18« eingestuft wurde. Als vor zwei Jahren Grand Theft Auto 4 aus politischen Gründen – der politische Mainstream pflegt weiter das Klischee, Spiele seien gefährlich, wenn Pistolen darin vorkommen – keinen Preis bekommen durfte, wäre die Jury beinahe zerfallen. Der Zirkus täuscht niemanden darüber hinweg, dass der Deutsche Computerspielepreis traurig gescheitert ist und wohl kaum noch länger als ein bis zwei Jahre existieren wird. Gerade weil er zuletzt alibimäßig mit dem kommerziellen Preis Lara auf einen Abend zusammengelegt wurde, damit wenigstens irgendwo mal die ernst zu nehmenden Games vorkommen.

Auch im akademischen Diskurs herrscht leider eindimensionaler Flachsinn. Da gibt es einerseits die etwas peinliche Wirkungsforschung, die tatsächlich festzunageln versucht, was konservative Kulturkritik im Sinne der Pädagogik seit Jahren erfragt: Ist das alles schädlich? Oder wie es Helen, die Frau von Reverend Lovejoy in der TV-Serie Die Simpsons gerne herauskreischt: »Kann denn nicht mal jemand an die Kinder denken!« Wirkungsforscher sperren Versuchspersonen ins Labor, lassen sie Shooter-Games spielen und hinterher Testfragebögen ausfüllen, welche die Steigerung der Aggressivität messen sollen. Derzeitiger Stand dieser Forschung: Videospiele erhöhen die Aggressivität kurzzeitig, Fernsehen übrigens auch und sogar noch etwas mehr. Andererseits versucht der eine oder andere Juniorprofessor auch, die Games selbst zu erfassen, und hantiert dazu meist mit Begriffen wie »Immersion« – wie tief zieht das Spiel in seine Welt hinein – oder »Ludologie« – ist es ein Spiel, so wie Kniffel oder Schach, oder ist es doch eher eine Erzählung wie Effi Briest oder Terminator? Das alles ist herrlich akademisch und trocken geworden. Eine elegante Kulturkritik, wie wir sie vom Film her kennen fehlt – man denke an Roland Barthes strukturale Analyse von Eisensteins Filmbildern, oder daran, wie Georg Seeßlen eine an Umberto Ecos Frühwerk geschulte Semiotik auf das Kino anwandte. Solch lebendige Theorie fehlt im Bereich des Videospiels. Und, schlimmer noch, dieser Mangel fällt nicht einmal irgendwem auf. Als Feigenblatt hat man sich das Feld der »Serious Games« geschaffen, der Spiele, die einen Lerneffekt haben. Aber wieso sollten eigentlich nur die einen Erkenntniswert haben, und nicht alle Games?

Kürzlich entbrannte auf Spiegel Online eine Debatte um den Games-Fachjournalismus. Der Journalist Christian Schmidt, der ihn jahrelang selbst befeuert hatte, gab plötzlich zu, wie dumm doch die ganze Szene sei. Der Aufschrei war laut. In der gesamten Fachpresse werden Spiele, die doch angeblich Kulturgut geworden seien, stets auf einer Prozentskala bewertet. Als würde man sagen: Die neue von The Kooks ist nur 68 %, also so la la, die letzte Chili Peppers aber 85 %, muss man kaufen. Übrigens, das Buch von Martin Walser erreicht wirklich nur 54,5 %, vergesst es. – Nun ist es also raus: So über Kultur zu denken ist krank. Petra Fröhlich, die Chefredakteurin mehrerer Fachmagazine, wehrte sich in einem etwas zu reflexhaften Antwortartikel: Viele Spiele seien doch so schlecht, was solle man da Differenziertes berichten, und überhaupt wies sie alle Kritik schlicht von sich. Dass es eine Unart der gesamten Fachpresse ist, Spiele, die doch angeblich Kulturgut geworden seien, stets auf einer Prozentskala bewertet, kam nicht zur Sprache. Das war typisch für die Gamer-Szene. Auch hier findet echte Diskussion nicht statt und immer fühlt sich jemand auf den Schlips getreten. Und die klugen Games-Zeitschriften Gee und Ple:, die es anders wollten, wurden eingestellt.

Man kann nur warten und auf die Spiele selbst hoffen. Half-Life 3 soll in Arbeit sein. Mass Effect 3 kommt – das Spiel, dessen Vorgänger es bis in die CNN-News schaffte, weil es einfach mal auch eine Sexszene einbaute. Und Lara Croft kommt wieder, ohne Atombusen, mit mehr Gefühlen – warum nicht. All das kann aufregend werden. Dafür, dass es auch relevant wird und irgendeinen Funken für Debatten oder kluge Gedanken schlägt, wird man in Zukunft aber einstehen müssen. Von selbst kommt das nicht – dafür sind Games inzwischen zu tief in den normalen Betrieb eingedrungen, mit all ihren Awards, Ausstellungen und Umsatzrekorden. Der Geist ist noch da, aber er braucht uns ab jetzt.

Thomas Lindemann ist Kulturjournalist und lebt in Berlin. Er wurde im selben Jahr geboren wie das erste Videospiel, PONG.

Die Philosophie der Egoshooter

Der Egoshooter bleibt das wichtigste und wegweisende Genre unter den Videospielen. Essay über eine Idee

"Aber ich liebe Dich doch!" - Von Half-Life inspirierte Collage der großartigen Warschauer Künstlerin Endo

Von Thomas Lindemann

Als Diedrich Diederichsen und sein Umkreis Mitte der 80er die Subkultur ihrer Jahre so hellsichtig umrissen, kam auch ein neuerkultureller Kosmos zum Vorschein: Die Musik von Heaven 17 und Scritti Politti,von Hüsker Dü, die Idee des camp, französische Philosophie, das LSD –und immer wieder: der Zombiefilm. Die Liebe zum Trash mit den Untoten war die subversive Albernheit der Post-Hippies.Vielleicht war sie kritisch gemeint, vielleicht bloß Unterhaltung. Das war egal – sie provozierte sogar noch den ewigen anderen, den Burgeois.

In einer (längst überfälligen) Bestandsaufnahme unserer heutigen Jahre gäbe es auch ein solches albernes und gleichzeitig kritisches Element: Es wäre der Egoshooter. Es gibt inzwischen eine große Altersgruppe, in der man kam einen denkenden Kopf findet, der nicht in „Half-Life“ gegen ein totalitäres Science-Fiction-Regime gekämpft hat. Oder zum Soundtrack der Nine Inch Nails „Quake“ gespielt hat. Oder darüber nachgedacht hat, ob der „Duke“ aus dem Shooter „Duke Nuke Em“ nun ein rechter Macho oder dessen kluge Parodie ist.

Dass der Egoshooter jahrelang Gegenstand heftiger Kritik von Seiten despolitischen Establishments war, hat ihm offenbar nicht geschadet. Der Online-Händler Amazon stellt eine eigene Rubrik „Egoshooter“ bereit – mit derzeit 650 Einträgen. Und auf der Kölner GamesCom, Europas größter Messe für Videospiele, wird ab heute wieder klar: Die wichtigsten, aufwendigsten und interessantesten neuen Spiele sind Egoshooter.

Daher wird es Zeit, die kulturelle Strahlkraft dieserSpielidee anzuerkennen – einer Idee, die sich seltsamerweise über ihrePerspektive definiert: Ich schaue in die Welt. Wer Egoshooter spielt, begibt sich in eine riskante psycho-soziale Simulation. Er rennt als einzelner durchein feindseliges Außen, schaut geradeaus und klammert sich verzweifelt an etwas fest, das ausgerechnet eine Waffe ist. Er karikiert das kapitalistische Einzelkämpfertum und verhöhnt den Drang des modernen Menschen, zu reisen undneue Welten kennenzulernen. Er steigt nur in unwirtliche Horrorwelten hinab.Ein Egoshooter ist mehr als ein Spiel – er ist eine philosophische Studie über die Art, wie wir uns in der Welt sehen.

Das erklärt seinen Erfolg mit. 40 Jahre nach seinen Anfängenund fast 20 Jahre nach dem ersten Egoshooter, „Wolfenstein 3D“, ist das Genrezum führenden Typus Videospiel geworden. Und das Videospiel soll bekanntlichein Massenvergnügen geworden sein. Anlässlich der Messe verkündete die Industrie, gestützt von der GfK, das 23 Millionen Deutsche Spieler seien. Knapp die Hälfte davon Frauen.

Ein Großteil dieses wirtschaftlich-sozialen Erfolgs gehörtdem Prinzip Egoshooter. Das deutsche Spiel „Crysis2“ hat gerade den EuropeanGames Award gewonnen, in sechsKategorien. Die absurd erfolgreiche „Call of Duty Modern Warfare“-Reihe verlegtin ihrem neuen Teil den Krieg nach New York, Paris und London, rückt demPublikum also immer weiter auf die Pelle. Die dümmlichen Fantasien von derMacht eines einzelnen, die diesen Spielen innewohnen, wären Stoff für Diskussionen. Aber auch der Enthusiasmus dieser Spiele, jede womöglich heilebürgerliche Welt zerstören zu wollen. Im günstigen Fall ist das dem Spieleingeschrieben. Die „Fear“-Reihe hatte (bevor sie mit dem neuen, dritten Teil bedeutungslos wurde) eine mythische Mutterfigur als Herrin des brutalen Geschehens eingebaut, einen C. G. Jungschen Archetypus, der immer wieder in Traumvisionen erscheint.

Wo solch ein ausdrücklich verstörendes Element fehlt, wirddoch die Dringlichkeit stets überbetont. Immer wieder geht es in die Endzeit,immer wieder muss der Spiele eine Art Mad Max werden. Etwa in dem neuen Actionspiel „Rage“. Oder in Sonys Großprojekt „Resistance 3“: „Kalte neue Welt“heißt dieses Spiel in Anlehnung an Aldous Huxley. Auf der QuakeCon in Dallas,einer eigenen Messe (!) nur für Egoshooter-Macher, tönte einer der Designer in einer Rede, das ganze Team habe während der Arbeit „The Road“ gelesen, denBestseller des Pulitzer-Preisträgers Cormac McCarthy, in dem Vater und Sohn durch ein zerstörtes Amerika reisen. Ein Stück große Literatur soll Vorbild von„Resistance“ sein.

Die Zerstörung, das Tote, oder ihr Vorbote, die Unterseiteder modernen Kultur, waren schon immer beliebtes Thema der Egoshooter. Konsequenterweise zeigen sie gern die ubiquitären hässlichen Seiten der Zivilisation – sie spielen in Parkhäusern, Kanalsystemen, vor verkommenden Betonfassaden. Öffentliche Toiletten kommen als Running Gag immer wieder vor. Die polnische Künstlergruppe „Martwica“ arbeitete einmal Screenshots aus„Half-Life“ zu Collagen-Kunst um. Ihre Begründung: Die Bilder aus dem Spielerinnern so sehr an die Bausünden der Warschauer Vorstadt, Realität und Spielfügten sich gut ineinander.

Es muss eine große Lust geben, die diese kaputten Weltenhineinzugehen, sich teilnehmend mit dem Schmutz der Moderne auseinanderzusetzen. Als die Gerüchte, es werde bald eine Fortsetzung des Spiels „Half-Life“ geben, kürzlich dementiert wurden, demonstrierten enttäuschte Fans vor dem Firmensitz des Herstellers Valve.

Der Egoshooter ist das einzige Spielegenre, das immer wieder schnell auf politisches Geschehen reagiert. Kurz nach der Erschießung Osama BinLadens konnte man in einer kostenlosen „Counterstrike“-Erweiterung selbst einvirtuelles Abottabad stürmen. Und das deutsche Spiel „1378 km“ machte den Spieler zum DDR-Soldaten oder zum Flüchtling an der Mauer. In der von einem Studenten programmierten Szenerie musste man dann eben entscheiden, ob maneinen Flüchtling ziehen lässt. Oder mit ihm redet. Oder die Seite wechselt. Alles war möglich – sogar der Todesschuss.

Die neuen Spiele, die das erfolgreichstealler Game-Genres fortschreiben werden, lassen sich als Anmerkung zum Zeitgeistlesen. In „Battlefield 3“ etwa wird man zum Soldaten und muss den Horror des modernen Krieges selbst durchleben, den wir heute aus Wikileaks-Videos und Ähnlichem viel näher kennen, als wir wollen. Auf der Pressekonferenz desHerstellers Electronic Arts jubelte einer der Manager, man habe die „beste, authentischste Erfahrung von Kriegsgeschehen“ geschaffen. Als sei es eineFreude, drinzustecken. Das Publikum applaudierte. Wer diese Erfahrungen alsospielt, wird dabei zum mitfühlenden Zyniker, einem paradoxen Sozialtyp: Er will die Welt verstehen, ballert aber am Ende doch wieder nur. Man fühlt sich dabei seltsam nah am Puls der Zeit – das „Man down!“, das die virtuellen Kameraden immer wieder aus dem PC-Lautsprecher rufen, trällert doch auch Rihanna zurzeitso hypnotisch alle paar Minuten aus dem Radio.

Selbst misslungene Shooter lassenhier und da auch mal einen Gedanken aufflammen. Das gerade neue „Duke NukemForever“ ist so etwas wie das „Chinese Democracy“ der Gameswelt: Fünfzehn Jahrelang ließ die Fortsetzung dieser Reihe auf sich warten, ähnlich wie das neue Album von Guns’n'Roses. Nun ist das Spiel da, ist technisch schwerfällig und macht wenig Spaß. Aber es spart nicht mit herbem Sarkasmus gegen die Medienkultur der USA und zeigt auch mal die Star-Teenager Mary Kate und AshleyOlsen beim Oralsex mit einem dümmlichen Muskelprotz – soviel erlaubt sich derzeit sicher kein Hollywoodfilm.

Nachdem die Gewaltdebatte vorbei ist, muss der Egoshooternun zeigen, ob er kulturell eine Berechtigung hat. Der schwedische AttentäterAnders Breivik nannte in seinem wirren Manifest auch mehrmals den EgoshooterCall of Duty Modern Warfare. Wieder flammte kurz Kritik auf – diesmal allerdings fast nur innerhalb der Spielerszene. In Foren wurde diskutiert, was ein moralisch besseres Ballerspiel sein könnte. Im neuen Spiel „Deus Ex 3“ gibt es mehr Punkte, wenn man Gegner betäubt und nicht tötet, betont jemand. Andere Spiele bieten die Möglichkeit, durch Schleichen an den Gegnern vorbeizukommen.

Will man Egoshooter als Kulturgut ernst nehmen, führt dasschon wieder in Probleme. Die Debatte wirkt dann, als stritten junge Griechen des siebten vorchristlichen Jahrhunderts um Homers neues Werk so: Wäre es nicht menschlicher, Odysseus hätte die Freier im 21. und 22. Gesang nicht so brutal umgebracht, sondern geohrfeigt und rausgeworfen? Wirklich befremdlich ist, wiesehr selbst Fans das Spiel also ernst nehmen. Darin gleichen sie Berufskritikernwie dem SPD-Mann Christian Pfeiffer. Keine Studie konnte jemals ernsthaft eine negative Wirkung von Schießspielen nachweisen – die Debatte um sie wird also rein ideologisch geführt. Das macht sie interessant. Von „Indoktrinierung“ und„unterschwelligen Botschaften“ ist nun auf den Webseiten die Rede, in denenkritische Gamer sich austauschen. Soviel Macht wurde lange keinem Unterhaltungsprodukt zugesprochen.

Walter Benjamins Engel der Geschichte geht bekanntlich rückwärts durch die Zeiten und muss mit ansehen, wie die Menschen Krieg und Zerstörung aufeinander häufen. Der Egoshooter als Figur ist sein negatives Zerrbild, er geht vorwärts in den Schutt und die Destruktion hinein, um sie zu vergrößern. Kein Engel eben, nur ein Verlorener der Moderne. Niemand hat gesagt, dass Egoshooter ein schönes oder erhebendes Kuturgut seien. Nur ein wichtiges und aufschlussreiches sind sie.

Eine gekürzte Fassung dieses Artikels erschien im August 2011 im Kulturteil der “Welt”