Godzillas Riesenbaby – Wer sind das, Games, und was wollen die?



Eine ähnliche Fassung dieses Textes ist in SPEX 11/12-2011 erschienen, als Aufmacher eines Specials über Videospiele. Das Heft ist seit Mitte Dezember 2011 nicht mehr am Kiosk.


Godzillas Riesenbaby

Wo bleibt der Roland Barthes der Games-Theorie, wo der Georg Seeßlen der Spielehochschulen? Die Wissenschaft steht auf traurigem Niveau, die Kritik sowieso, der Underground hat wenig Chancen. Videospiele entwickeln sich toll, kämpfen dabei aber mit einigen Problemen.

Text: Thomas Lindemann

Jeden Sommer kommen sie aus der ganzen Welt nach Köln, all die Games-Konzerne aus Fernost und Übersee, um ihre Neuheiten auf der GamesCom, der weltgrößten Messe für »interaktive Spiele und Unterhaltung« zu präsentieren. 2011 gab es vor allem altbekannte Massenware zu sehen; die Shows waren enttäuschend, aber sehr laut. Und dann: ein lichter Moment. Schwarz tritt ein einsamer Kämpfer vor eine rote Sonne, sein Schatten zeichnet sich weiß in Scherenschnitt-Optik ab. Eine Ästhetik wie in Frank Millers Sin-City, nur gewagter. Da schien ein moderner Kunst-Comic als Game zum Leben zu erwachen. Wow! So ein Spiel sollte es jetzt geben? – Natürlich nicht! Es war die kunstvolle Inszenierung eines Trailers zu Resistance 3 – und sie konnte nicht darüber hinwegtäuschen, dass das Spiel selbst dem üblichen Paradigma aktueller Action-Games folgt: dem Fotorealismus. Alles soll so aussehen, dass man es für »echt« hält. Das ist oft frappant, und häufig hübsch anzusehen, aber immer auch etwas traurig, wenn sich darin die Ästhetik-Diskussion erschöpft.

Das Videospiel stapft derzeit ein bisschen wie Godzillas Riesenbaby durch die Kulturlandschaft. Seine Entwicklung war wirtschaftlich atemberaubend, es hat sozusagen mächtige Muskeln bekommen. Künstlerisch und diskursiv ist es aber nicht ganz mitgekommen. Es fehlt an Selbstreflexion, und ein eigener theoretischer Ansatz, wie ihn die Game Studies proklamieren, will nicht so Recht in die Gänge kommen. Ob Gaming nun affirmativ sei oder kritisch, welche erhellenden Einsichten es transportieren kann, ob es sich mit Diskursen anderer Kunstformen kurzschließen lässt, all das spielt auf Veranstaltungen wie der GamesCom eine untergeordnete Rolle.

Das muss sich ändern, und es wird. Denn, erinnern wir uns, alles begann doch so großartig. Ende der Neunziger hörten wir nächtelang Chemical Brothers und spielten dazu Mario Cart auf einer SNES-Simulation für den PC. Beides war gnadenlos plastic, aber so konsequent und humorvoll, dass man sprachlos war. Dann kamen die privaten LAN-Parties und Echtzeit-Strategiespiele wie StarCraft, später das popaffine Musikspiel Rez, und dann schon das totalitäre Sci-Fi-Regime in Half-Life. Die Spiele wurden immer irrer und, immer schöner. Und die Kulturzausel in Politik, Medien und Wissenschaft da draußen wussten nicht einmal, dass es das gab, während sie sich im Pfründesystem des bundesdeutschen Betriebs um ihre Fleischtöpfe stritten. Spielen war Haltung. Subversion mit Freude daran. So ähnlich wie vielleicht wie Heaven 17 Hören Anfang der Achtziger.

Noch etwas fiel während der GamesCom im Sommer 2011 auf: Beim Entwicklerverband, der doch diejenigen vertritt, die Spiele erschaffen, die Club Mate trinken und für ihre Sache brennen – ausgerechnet da sah man Schlipse, Schlipse, Schlipse. Die Investoren und Geldmacher sind präsenter als je zuvor. Sie duzen sich nicht und sie sind neuerdings Herr über die Gästelisten. Die coolen Gestalten muss man inzwischen suchen. Die Gleichförmigkeit des Mainstreams ist nicht wegzureden, auch nicht aus den groß angekündigten Spielen der letzten Monate. Von dem x-ten Teil der Fußball-, Football- oder Basketballsimulationen wollen wir gar nicht sprechen. Aber da war etwa das plumpe Space Marines, in dem der Spieler als uniformierter Klopper mit übergroßen Schultern an der Kriegsfront alles plattmacht. Oder die Fortsetzung der Fear-Reihe, dieses Horror-Egoshooters, der in früheren Teilen seltsame Traumszenen enthielt, in denen ein kleines Mädchen namens Alma den Spieler attackierte. Das war clever, da steckte Blattys Exorzist als Zitat drin und Das Omen von Richard Donner sowieso. Zugleich funktionierte das Game als bitterer Kommentar zum Thema Kindesmissbrauch: Die tödliche kleine Alma, so erfuhr man später im Spiel, war Missbrauchsopfer und rächte sich für die perverse Experimente, die an ihr durchgeführt worden waren. Nun entpuppt sich der dritte Teil der Serie F3AR aber als dummes, stumpfes Kriegsspiel. Und auch das neueste Deus Ex ist eine Enttäuschung. Als Vision einer Zukunft, in der Menschen sich durch Maschinenteile aufpeppen lassen, besitzt das Spiel durchaus referentielles Potential, handelt es sich hier doch um eine Form von Transhumanismus, wie er auch in aktuellen Suhrkamp-Bändchen diskutiert wird. Aber die Umsetzung – ein Kerl ballert sich zur Rettung der Welt durch machistische Machtphantasien – so etwas war schon bei Rambo II und Rambo III reaktionär. Heute sollen wir die Pille erneut fressen und uns dabei auch noch freuen.

Aber Spiele können auch für Überraschungen sorgen und wach machen. So wie das herrliche Musikspiel Child of Eden, dessen Soundtrack je nach Spielstil immer anders klingt. Oder Portal 2, in dem man nicht mit Kugeln schießt, sondern mit Türen, die sich in den Wänden plötzlich auftun. Die funktionieren dann wie Teleporter und erschließen als waghalsiger 3D-Gag ein ganz neues Raumgefühl. Es gab From Dust, in dem man Gott spielt und Landschaften formt – die metaphysische Klimax aller imperialistischen und zivilisatorischen Strategiespiele. Und demnächst kommt Max Payne 3 auf den Markt, dann geht eine bedrückende Hardboiled-Story in hoch konsequentem Design weiter, die man mindestens jedem der neueren Filme von Tarantino vorziehen würde.

Großartiges steht neben einer Übermacht von Mist, in diesem Widerspruch steckt die Games-Branche derzeit. Auflösen kann sie ihn nicht, aber offenbar herrscht ein großer Drang, ihn einzuordnen und das eigene Prinzip, die eigene Entwicklung zu begreifen. Ein Zeichen dafür ist die rasante Musealisierung: Das deutsche Computerspielemuseum, als Sammlung schon 15 Jahre existent, bezog zum Jahresanfang erstmals würdige Räume in Berlin Friedrichshain. Das Smithsonian, eine der größten US-amerikanischen Forschungs- und Bildungseinrichtungen, die mehrere Institute und Museen umfasst, kündigte für 2012 eine umfassende und komplexe Ausstellung seiner historischen Games-Sammlung an, und das British Museum bietet seinen Besuchern einen Design-Workshop zum Thema Retro Game. »Spiele sind in der Gesellschaft angekommen.«, dieser Satz wurde aus der Gamer-Szene heraus lange wie ein Mantra beschworen, heute ist er wahr geworden – nur nicht ganz so, wie man sich das immer gewünscht hatte.

Das Establishment will Games, aber bitte der harmlosen Art. In Deutschland sorgt auch die Zensur für Zahnlosigkeit. Bilderbuchhaft führt dies der Deutsche Computerspielepreis vor, den Kulturminister Bernd Neumann Anfang 2009 ins Leben rief. Wenn man schon den deutschen Film jährlich mit knapp 200 Millionen Euro fördert, dann kann man doch diese junge Kulturbranche Games auch mal mit 300.000 Euro dotieren. Unter den Anwärtern befindet allerdings nie auch nur ein Spiel, das vom Jugendschutz als »ab 18« eingestuft wurde. Als vor zwei Jahren Grand Theft Auto 4 aus politischen Gründen – der politische Mainstream pflegt weiter das Klischee, Spiele seien gefährlich, wenn Pistolen darin vorkommen – keinen Preis bekommen durfte, wäre die Jury beinahe zerfallen. Der Zirkus täuscht niemanden darüber hinweg, dass der Deutsche Computerspielepreis traurig gescheitert ist und wohl kaum noch länger als ein bis zwei Jahre existieren wird. Gerade weil er zuletzt alibimäßig mit dem kommerziellen Preis Lara auf einen Abend zusammengelegt wurde, damit wenigstens irgendwo mal die ernst zu nehmenden Games vorkommen.

Auch im akademischen Diskurs herrscht leider eindimensionaler Flachsinn. Da gibt es einerseits die etwas peinliche Wirkungsforschung, die tatsächlich festzunageln versucht, was konservative Kulturkritik im Sinne der Pädagogik seit Jahren erfragt: Ist das alles schädlich? Oder wie es Helen, die Frau von Reverend Lovejoy in der TV-Serie Die Simpsons gerne herauskreischt: »Kann denn nicht mal jemand an die Kinder denken!« Wirkungsforscher sperren Versuchspersonen ins Labor, lassen sie Shooter-Games spielen und hinterher Testfragebögen ausfüllen, welche die Steigerung der Aggressivität messen sollen. Derzeitiger Stand dieser Forschung: Videospiele erhöhen die Aggressivität kurzzeitig, Fernsehen übrigens auch und sogar noch etwas mehr. Andererseits versucht der eine oder andere Juniorprofessor auch, die Games selbst zu erfassen, und hantiert dazu meist mit Begriffen wie »Immersion« – wie tief zieht das Spiel in seine Welt hinein – oder »Ludologie« – ist es ein Spiel, so wie Kniffel oder Schach, oder ist es doch eher eine Erzählung wie Effi Briest oder Terminator? Das alles ist herrlich akademisch und trocken geworden. Eine elegante Kulturkritik, wie wir sie vom Film her kennen fehlt – man denke an Roland Barthes strukturale Analyse von Eisensteins Filmbildern, oder daran, wie Georg Seeßlen eine an Umberto Ecos Frühwerk geschulte Semiotik auf das Kino anwandte. Solch lebendige Theorie fehlt im Bereich des Videospiels. Und, schlimmer noch, dieser Mangel fällt nicht einmal irgendwem auf. Als Feigenblatt hat man sich das Feld der »Serious Games« geschaffen, der Spiele, die einen Lerneffekt haben. Aber wieso sollten eigentlich nur die einen Erkenntniswert haben, und nicht alle Games?

Kürzlich entbrannte auf Spiegel Online eine Debatte um den Games-Fachjournalismus. Der Journalist Christian Schmidt, der ihn jahrelang selbst befeuert hatte, gab plötzlich zu, wie dumm doch die ganze Szene sei. Der Aufschrei war laut. In der gesamten Fachpresse werden Spiele, die doch angeblich Kulturgut geworden seien, stets auf einer Prozentskala bewertet. Als würde man sagen: Die neue von The Kooks ist nur 68 %, also so la la, die letzte Chili Peppers aber 85 %, muss man kaufen. Übrigens, das Buch von Martin Walser erreicht wirklich nur 54,5 %, vergesst es. – Nun ist es also raus: So über Kultur zu denken ist krank. Petra Fröhlich, die Chefredakteurin mehrerer Fachmagazine, wehrte sich in einem etwas zu reflexhaften Antwortartikel: Viele Spiele seien doch so schlecht, was solle man da Differenziertes berichten, und überhaupt wies sie alle Kritik schlicht von sich. Dass es eine Unart der gesamten Fachpresse ist, Spiele, die doch angeblich Kulturgut geworden seien, stets auf einer Prozentskala bewertet, kam nicht zur Sprache. Das war typisch für die Gamer-Szene. Auch hier findet echte Diskussion nicht statt und immer fühlt sich jemand auf den Schlips getreten. Und die klugen Games-Zeitschriften Gee und Ple:, die es anders wollten, wurden eingestellt.

Man kann nur warten und auf die Spiele selbst hoffen. Half-Life 3 soll in Arbeit sein. Mass Effect 3 kommt – das Spiel, dessen Vorgänger es bis in die CNN-News schaffte, weil es einfach mal auch eine Sexszene einbaute. Und Lara Croft kommt wieder, ohne Atombusen, mit mehr Gefühlen – warum nicht. All das kann aufregend werden. Dafür, dass es auch relevant wird und irgendeinen Funken für Debatten oder kluge Gedanken schlägt, wird man in Zukunft aber einstehen müssen. Von selbst kommt das nicht – dafür sind Games inzwischen zu tief in den normalen Betrieb eingedrungen, mit all ihren Awards, Ausstellungen und Umsatzrekorden. Der Geist ist noch da, aber er braucht uns ab jetzt.

Thomas Lindemann ist Kulturjournalist und lebt in Berlin. Er wurde im selben Jahr geboren wie das erste Videospiel, PONG.

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